Dass einige Staaten die Scharia als geltendes Recht haben oder im Zuge der geänderten Machtverhältnisse nun die Scharia einführen wollen und dass es mit der "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam" immer noch Parallel-Menschenrechte gibt, löst weltweite Diskussionen aus. Muslimische "Hard-Liner" in der internationalen Staatengemeinschaft sind Saudi Arabien (grausame Körperstrafen bis hin zu Auspeitschuingen, Steinigungen, Enthauptungen und Kreuzigungen; selbst minderjährige Rechtsbrecher sind nicht davor gefeit), Afghanistan (insbesondere die von den Taliban und assoziierten Stämmen regierten Provinzen), die Malediven (obwohl Touristenparadies), Indonesien (in der Provinz Aceh werden z.B. Alkoholkonsum, Glücksspiel sowie sexuelle Kontakte unter Unverheirateten und Homosexuellen mit Peitschenhieben bestraft), Iran, Irak und nordafrikanische Länder (insbesondere die von der Terrorgruppe Islamischer Staat kontrollierten Gebiete); in Familienrechtsangelegenheiten auch in Pakistan, Indonesien, Singapur, Malaysia, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar, Kuwait, Bahrain, Jemen, Oman und einigen anderen kleineren Staaten.
Das Thema wird auch benützt, um da und dort auf polemische Art und mit angstmachenden Behauptungen und Bildern politische Agitation zu betreiben. Ist muslimisches Recht wirklich ein Schreckgespenst oder vielleicht doch eine recht wirksame Art, das Zusammenleben der Menschen so zu regeln, dass Eintracht herrscht? Und: Kann eine theokratische Rechtsform, die uralte Glaubensvorstellungen zur Grundlage hat, wirklich gerecht bzw. zeitgerecht sein? Verstoßt die Scharia gegen die Menschenrechte der UNO (siehe dort die Anmerkung am Schluss des Beitrags)?
Grundlage der Scharia ist der Koran, der laut Murad Hofmann rund 600 Rechtsvorschriften enthält, von denen sich etwa 400 auf den Gottesdienst beziehen, rund 80 auf Wirtschaft und Finanzen, zirka 70 auf Familienrecht, Erbrecht und Sittlichkeit, ungefähr 30 auf materielles und prozessuales Strafrecht (also zu jenen bösen Dingen, die Menschen einander antun) und etwa 35 auf Völkerrecht und Staatsrecht. Die Rechstvorschriften nehmen ungefähr 4 Prozent des Korantextes ein; konkrete Strafandrohungen 0,7 Prozent. Sie alle beziehen sich natürgemäß auf die damalige Zeit – samt ihren Wertvorstellungen und vorangehenden Regelungen zum Zusammenleben der Menschen und zur Abwehr von Feinden (in einer grauenhaft blutrünstigen Epoche der Menschheit). Ein Großteil der Auffassung entspricht den jüdischen und urchristlichen Denkweisen der damaligen Zeit. Modern denkende Muslime erheben – genauso wenig wie modern denkende Juden und Christen – nicht den Anspruch, dass diese Gesetze 1:1 in die heutige Zeit übernommen werden sollten.
Wie werden dann Dinge und soziale Gegebenheiten abgehandelt, von deren Existenz man damals noch keine Ahnung hatte? Laut Murad Hofmann bestimmt für solche Fragen die "islamische Jurisprudenz" (wer immer das dann ist) die Formulierung der Gesetze, und zwar indem sie Analogieschlüsse zieht und von den vorhandenen Gesetzen ableitet. Hier ist also ein juristischer Freiraum gegeben. Fundamentalisten bestimmen ihn anders als moderne JuristInnen, die eine Harmonie zu nichtreligiös geleiteten Rechtsnormen und zur Moderne suchen. In der Praxis bedeutet dies: Scharia ist nicht gleich Scharia. Abzulehnen sind Rechtsformulierungen, die sich an den Verhältnissen und der Gesetzgebung früherer Jahrhunderte orientieren. Strafen, die eine körperliche Züchtigung vorsehen oder irgend einer Art von Diskriminierung Raum geben, haben keinen Platz mehr in einer zeitgemäßen Gesetzgebung. Anzunehmen sind jedoch Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen im Sinne der Barmherzigkeit regeln. Denn böse Taten gegen Mitmenschen kann man am besten verhindern, wenn jeder Mensch in ein Umfeld hineingeboren wird, das ihm / ihr moralisch richtiges und ethisch geleitetes Verhalten ermöglicht.
Zurück zu den Fragen aus dem Einleitungsabsatz: Ist die Anwendung der Scharia eine wirksame Art, das Zusammenleben der Menschen so zu regeln, dass Eintracht herrscht? Ist muslimisches Recht wirklich gerecht bzw. zeitgemäß? Würde man die Rechtsanleitungen des Koran so auslegen, wie das verständnisvolle, aufgeschlossene und mit beiden Beinen in unserer Zeit stehende muslimisch orientierte Juristen und Juristinnen tun, ja. Wenn es in einer Weise geschieht, die der Rechtssprechung vergangener Jahrhunderte entspricht, nein. Denn hier bevorzugt die Scharia ganz eindeutig Männer und zementiert deren Macht; sie mischt sich in unzulässiger Weise in Dinge ein, die absolut zur Privatsphäre eines Menschen gehören; sie enthält Rechtsvorschriften, die nicht menschenrechtskonform sind; sie gibt Strafen Raum, deren Anwendung im krassen Gegensatz zu psychologischen Erkenntnissen stehen und das Potenzial haben, das Leben von Menschen zu zerstören; sie limitiert das Recht auf freie Meinungsäußerung und setzt Andersgläubige bzw. Atheisten einer Dauerdiskriminierung und Dauerbedrohung aus, die einem kollektiven Mobbing gleichkommt. Vor der Französischen Revolution und vor der Epoche der Aufklärung hatten wir das in Europa auch – damals unter christlichen Vorzeichen. Wiedersehen unerwünscht!
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