Im Westen wird sehr oft gefragt, ob es im Buddhismus, als eine Religion des Hier und Jetzt, so etwas wie Ethik und Moral überhaupt gibt. Eine aus buddhistischer Sicht etwas befremdliche Frage, wenn berücksichtigt wird, dass die Annahme der Gebote eines der wichtigsten und ersten Schritte auf dem Buddha-Weg sind. Weil der Zen-Buddhismus eine Religion der unmittelbaren Wirklichkeit ist, ist es andererseits wahr, dass Gebote eher Empfehlungen sind, die – ähnlich dem Gleichgewicht von Zazen – jeder von uns in seiner eigenen Praxis umsetzen muss. Wie ist es aber dann möglich, einen gewissen moralischen Anspruch zu folgen, ohne einen fixen Verhaltenskodex zu haben? Im Zen ist die Antwort: Indem man dem Gleichgewicht folgt. Denn in einem Verständnis vom Gleichgewicht, wo der Körper und der Geist eins sind und wo es deshalb kein Innen und kein Außen gibt, ist das, was wir "Ich" nennen, nicht von allen lebenden Wesen und der ganzen Welt getrennt, sodass das, was man anderen Wesen antut direkte Auswirkungen auf einen selbst hat.
Diese Regel ist eine unfehlbare Gesetzmäßigkeit, in die man Vertrauen haben kann und die im Buddhismus als das Gesetzt von Ursache und Wirkung bezeichnet wird. Weil sich die Wirklichkeit ständig ändert, ist es ein Gesetz jenseits von fixen Moralvorstellungen und Dogmen, das uns eigene Antworten selbst zu den komplexesten Themen in unseren Leben finden lässt; Antworten auf Themen wie: Umweltschutz, Gleichberechtigung, Homosexualität, Integration, Respekt oder gar Abtreibung oder Euthanasie.
Ein anschauliches Beispiel des moralischen Anspruchs des Mahayana-Buddhismus sind die sechs Paramitas bzw. die sechs transzendenten Tugenden des Boddhisattva-Pfades: Das Wort "Boddhisattva" bedeutet: "Derjenige, der unerschrocken genug ist, den Bodhi-Weg zu gehen." "Bodhi" bedeutet "erwacht", der "erwachte Zustand". D.h. ein Boddhisattva ist eine Person, die bereit ist, den Pfad der Erwachten zu gehen; der Pfad, der zur anderen Seite des Flusses führt. Denn Paramita bedeutet "zur anderen Seite des Flusses angekommen sein", was darauf hindeutet, dass die Handlungen des Boddhisattva das selbstbezogene "Ich" transzendiert haben.
Laut dem Lotus Sutra (Saddharmapundarika) besteht der Boddhisattva-Pfad aus folgenden Tugenden: 1. Die Großzügigkeit ("Fuse" auf Japanisch, "Dāna" auf Sanskrit). 2. Das rechte Verhalten (Kai auf Japanisch, Sīla auf Sanskrit). 3. Die Geduld ("Ninniku" auf Japanisch, "Kshanti" auf Sanskrit). 4. Die Energie ("Shojin" auf Japanisch, "Vīrya" auf Sanskrit). 5. Die Konzentration ("Zenjo" auf Japanisch, "Dhyāna" auf Sanskrit) und 6. Die Weisheit ("Chie" auf Japanisch, "Prajñā" auf Sanskrit).
Bei diesen Tugenden handelt es sich um Verhaltensweisen, die in einander übergehen und die spontan je nach Situation in Erscheinung treten. So bedeutet das Paramita der Großzügigkeit in erster Linie Kommunikation; Kommunikation, verstanden als eine uneingeschränkte Kommunikation; als ein Akt des Austauschs, indem wir alles geben und indem wir das tun, was der Augenblick verlangt, jenseits von Meinungen, Vorbehalten oder sonstigen Gedanken.
Damit verbunden steht das Paramita der Disziplin. Die Disziplin, sowohl Hoffnungen als auch Ängste loszulassen und immer wieder zur Wirklichkeit dieses Augenblicks zurückzukehren, um auf diese Weise in Einheit mit dem Universum zu sein. Wir unterlassen auf dieser Weise natürlich das, was schädlich ist, harmonisieren uns mit unserem Umfeld und folgen so natürlich der Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung.
Immer wieder zur Wirklichkeit dieses Augenblicks zurückzukehren, bedeutet auch Geduld zu praktizieren. Jene Geduld, die keine Erwartung kennt; die es uns erlaubt, vollkommen im Augenblick zu sein und uns lehrt, in Harmonie, trotz Ängsten, mit der ganzen Welt zu sein. Eine Form der Geduld, die deshalb voll von Energie ist. Die Energie, die wir finden, wenn wir sämtliche Vorurteile loslassen und die Dinge so sehen, wie sie sind. Eine Energie, die in uns lebhaftes Interesse an allem entfacht, weil wir begriffen haben, dass es unsere mentalen Konstrukte sind, die uns daran hindern, wichtige Schritte in unserer Entwicklung zu machen.
Die Dinge so zu sehen, wie sie sind, führt uns zu einem anderen Aspekt der Boddhisattva-Praxis: die rechte Konzentration. Damit ist nicht ein besonderer Zustand des Geistes gemeint, sondern ein Wachsein für sämtliche Lebenssituationen. Ein Zustand der Wachheit also, der notwendig ist, um Prajñā zu entwickeln. Jene Weisheit, in der die Großzügigkeit, die Geduld, das rechte Verhalten, die Disziplin, die Energie und die Konzentration einmünden; die im Buddhismus sich jenseits der Gedanken sowie jenseits des Bewusstseins befindet und die uns lehrt, dass beim Erwachen des "Ich" zur Wirklichkeit alle Wesen und die ganze Erde es ebenfalls tun.
Meiyo Pedro Perez Vargas
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